Folgende theoretische Überlegungen haben uns bei unserem Projekt Ich und mein Selfie – (n)ever changing story? begleitet:
Selfie als neues Genre des digitalen Zeitalters
Das Selfie ist ein neues, eigenes visuelles Genre, welches auch von mehr und mehr Wissenschaften bearbeitet wird. Ein Selfie wird auch als „Spiegel, den wir einfrieren können“ (Coupland, 2015) beschrieben. Viele äußere Einflussfaktoren bestimmen ein Selfie, da der Fotograf oder die Fotografin darum bemüht ist, möglichst authentisch, gleichzeitig aber auch möglichst perfekt und schön abgebildet zu sein. Anhand eines Selfies lassen sich Aussagen über den Fotografen oder die Fotografin treffen, beispielsweise zu der Identität, der Sozialität, dem Verständnis von Glück und Sinn. Diese Punkte können von der Religionspädagogik mit Hilfe der Medienpädagogik anhand gewonnener wissenschaftlicher Erkenntnisse bearbeitet werden.
Selfie-Shaming oder Selfie-Celebration?
Selfies werden nach Ansicht von Katharina Lobinger meist nicht dieselbe Berechtigung und derselbe Wert zugestanden, wie Bildern aus professionellen Kontexten, obwohl Selfies der Rohstoff sozialer Netzwerke sind und dort an Zahl und Produktivität die professioneller Bilddateien bereits weit überschreiten. Sie werden oft vorschnell be- bzw. verurteilt. Sicherlich gehen mit der Selfie-Kultur auch Risiken einher, dennoch ist es genauso wichtig, die Ausdrucksformen junger Menschen wahr und ernst zu nehmen und mit ihnen ihre Selfies zu „feiern“, denn sie bergen – oft unbeachtete – Chancen der Selbsterkundung und Selbsterkenntnis in sich.
Welche unterschiedliche Arten von Selfies gibt es?
Mittlerweile existiert eine Vielzahl von unterschiedlichen Selfiearten, Klaas Huizing erläutert in seinem „Wörterbuch der Selbstentblößung“ verschiedene Selfie-Perspektiven wie Belfies und Footsies, welche nur Teile des Körpers ablichten wie den Hintern oder die Füße. Bei den Nudies geht es insbesondere um das vermehrte zur Schau stellen von Intimität junger Menschen in Selfies, welches ambivalent betrachtet werden kann. Der Kampf gegen Leibfeindlichkeit einerseits steht den damit einhergehenden Gefahren wie beispielsweise „Sexting“ für die jugendliche Entwicklung gegenüber, die Grenzen sind diesbezüglich oft unscharf.
Lässt die Häufigkeit von geposteten Selfies einen Rückschluss auf Narzissmus zu?
Die
exorbitant anwachsende Zahl von Selfies in den sozialen Netzwerken lässt die Frage entstehen, ob und wie weit hier Motive von Narzissmus erkennbar sind.
In der Forschung bewegen sich nach Michael Bauer beiden Pole zwischen „Narzissmus-Epidemie“ und „frei von Zwängen Identitäts- und
Beziehungsmanagement zu betreiben“.
Es existieren eine Vielzahl von Studien mit unterschiedlichen Narzissmus-Definitionen, eindeutig lässt sich aber kein expliziter Zusammenhang
zwischen der Häufigkeit von geposteten Selfies und pathologischen Narzissmus feststellen. Für die Medienethik wird eine Vermeidung von Pathologisierung und Dämonisierung sowie eine
kritisch-interdisziplinäre Auseinandersetzung mit den empirischen Ergebnissen der Sozialpsychologie und Kulturwissenschaften gefordert. Im Umgang mit neuen Medien können auch traditionelle
religiöse Werte hilfreich sein.
Spiegeln Selfies Glück?
Mit Hilfe von Selfies lassen sich Emotionen gut darstellen, besonders oft sind Glück oder ähnliche positive Gefühle zu sehen. Nicht immer handelt es sich um authentische Gefühle, allerdings lassen sich in der Forschung vier Dimensionen ausmachen, die mit Glück in Verbindung gebracht werden: Gemeinschaft, das Festhalten von Momenten, ein besonderer Anlass und Natur und Umgebung. Die meisten Selfies lassen sich mehr als nur einer Dimension zuordnen.
Selfies und Identität: fluide, fragil und fragmentarisch
Nach Viera Pirker können Identitätskonstrukte angesichts der sozialen Netzwerke als fluide, fragil und fragmentarisch beschrieben werden. Fluid deutet die Tatsache an, dass Mehreres gleichzeitig existieren kann und keiner Entscheidung bedarf. Die Fragilität, also die Verletzlichkeit des Individuums ist den Nutzer*innen von sozialen Netzwerken angesichts der Vielzahl an Interaktionen meist bewusst. Die Suche nach Identität ist damit nicht abgeschlossen sondern immer nur vorläufig und bedarf der Reflexion des stetigen Wandels.
simone.birkel@ku.de
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät für Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit